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Der steinige Fibromyalgie-Weg der Klara S.
(ein Beispiel für den Kampf um Rente)



Nach vorsichtigen Schätzungen des Lübecker Epidemiologen Raspe gibt es in Deutschland ca. 2. Mio. Fibromyalgie-Betroffene (also doppelt so viele wie es in Deutschland Beamte gibt). Ein Teil dieser Betroffenen leidet zwar unter dieser Er-krankung, kennt aber die Diagnose noch gar nicht, weil immer noch in Deutschland durchschnittlich 7 Jahre vergehen, bis die Fibromyalgie letztlich als solche diagnostiziert wird. Die meisten der Erkrankten sind in ihrem Beruf weiterhin arbeitsfähig, auch wenn sie ihre Tätigkeit nur unter Aufbietung von Schmerzen und großer Energie bewältigen können. Nur ganz wenige, also sozusagen die Spitze des Eisbergs, ist im Verlauf der Erkrankung so schwer betroffen, dass sie keinerlei berufliche Tätigkeit gewinnbringender Art mehr ausüben kann und daher einen Rentenantrag stellt.

Häufig kiloschwere Akten, dutzende von Röntgenaufnahmen, Kernspintomographien und vielfache Vorbefunde kennzeichnen den Verlauf einer Fibromyalgie. Immer wieder gibt es bei dem Versuch, eine Rente durchzusetzen, extreme Hürden, die z.T. auf Unkenntnis einiger Gutachter bis hin zur nihilistischen Einstellung des Krankheitsbildes der Fibromyalgie geht. In den Augen mancher wird die Fibromyalgie als „moderne Krankheit“ oder als nicht existente Verlegenheitsdiagnose tituliert. Die Fibromyalgie ist, auch wenn die Vielfältigkeit dieses Syndroms noch nicht völlig durchschaubar ist und noch immer einige Rätsel aufgibt, inzwischen von der WHO als Krankheit anerkannt. In den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Soziales, ist die Fibromyalgie seit etlichen Jahren in die Bewertung aufgenommen.

Im Folgenden soll beispielhaft für viele ähnliche Fälle und Verläufe der Weg nachgezeichnet werden, den Klara S., eine Gutachtenpatientin gegangen ist:

Die 56jährige Klara S. bemerkte vor etwa 10 Jahren in ihrer damaligen Tätigkeit als Buchhalterin zunehmende Ellenbogenschmerzen, die rechts stärker in Erscheinung traten als links. Zunächst wurden die Beschwerden durch Salben behandelt, schließlich hat der behandelnde Orthopäde auch eine Injektionsbehandlung an die Schmerzpunkte durchgeführt. Kurzfristig waren die Beschwerden etwas geringer, verschwanden aber nicht völlig und breiteten sich in die Schulter-Nacken-Region aus. Es traten heftige, therapieresistente Muskelschmerzen im gesamten Schulter-Nacken-Bereich auf, verbunden mit chronischen Hinterkopfschmerzen, die immer wieder zu kurzfristigen Arbeitsunfähigkeitszeiten führten. Zunächst wurden die Beschwerden durch den Hausarzt auch auf die seinerzeitige eintretende Menopause zurückgeführt, andererseits glaubte Frau S., dass es möglicherweise auch im Zusammenhang mit Mobbing am Arbeitsplatz zu sehen sei. Durch ihre häufigen Schmerzattacken und ihr nachlassendes Leistungsvermögen kam es hin und wieder zu Ausfallzeiten, die sowohl vom Bürochef als auch von den Mitarbeitern als „krank-feiern“ angesehen wurde.

Wegen der zunehmenden Schmerzen im Bereich der Arme, die schließlich auch die Greiffunktion der Finger beim Schreiben und bei einfachen hausfraulichen Tätigkeiten beeinträchtigte, empfahl der Orthopäde nach erfolglosen Injektionsbehandlungen eine operative Behandlung am Ellenbogen durchführen zu lassen. Dies führte erneut zu längerer Arbeitsunfähigkeitszeit. Eine entscheidende Besserung trat dadurch allerdings nicht ein, vielmehr kam es in der Folge zu Schmerzen im Bereich der Finger, weswegen schließlich auch ein Karpaltunnelsyndrom diagnostiziert wurde und ebenfalls operativ behandelt wurde. Auch diesmal war der Erfolg nicht ausgesprochen überzeugend, die Schmerzen blieben in ähnlicher Form bestehen, zusätzlich kam es zu erheblichen Schulterschmerzen bei dem Versuch, die Arme seitlich oder nach vorne hochzuheben. Der Orthopäde stelle ein Impingement-Syndrom fest, er empfahl eine Stoßwellentherapie durchzuführen, nachdem eine Injektionsbehandlung in die Schultergelenke ohne Erfolg blieb. Die Stoßwellenbehandlung musste Frau S. aus eigener Tasche zahlen, leider blieb ihr der Erfolg auch hier versagt.

Frau S. bemerkte in den folgenden Monaten ein Wandern der Schmerzen in ver-schiedene Körperregionen, die unterschiedliche Intensitäten und Lokalisationen zeigten. Kreuzschmerzen kamen hinzu, außerdem auch Schmerzen in die Hüftaußenseiten sowie Knieschmerzen. Die Gehstrecke war plötzlich nur noch für einige hundert Meter schmerzfrei möglich, danach traten Schmerzen in den Beinen auf, Frau S. hatte das Gefühl, als würde ihr jemand die Waden mit einem Eisenring einschnüren, so bald sie längere Strecken gehen wollte.

Die anfangs nur während des Tages bestehenden Schmerzen blieben schließlich auch nachts vorhanden, so dass der Nachtschlaf zunehmend stärker gestört wurde. Frau S. ging wegen Einschlafstörungen immer spät ins Bett, dennoch wachte sie sehr früh in den Morgenstunden auf und wurde auch während der Nachtzeit immer wieder durch Schmerzen am Schlaf gehindert. Morgens, wenn sie aus dem Bett aufstand, fühlte sie sich wie von einem Panzer überrollt, ihre Leistungsfähigkeit auch in psychischer Hinsicht wurde durch den mangelhaften Schlaf immer geringer, so daß ihre Tätigkeit im Büro fast nicht mehr mit normalen Kräften zu bewältigen war.

Die Angaben über zunehmende Knie- und Wirbelsäulenschmerzen veranlassten den Orthopäden hier Röntgenaufnahmen und eine Kernspintomographie durchführen zu lassen. Das Kernspintomogramm zeigte Bandscheibenvorwölbungen in den beiden unteren Etagen, weswegen hier eine operative Behandlung empfohlen wurde. Die Kniegelenke, die zunehmend schmerzhaft wurden, zeigten auf dem Kernspintomogramm Hinweise für einen Knorpelschaden, weswegen hier dringend eine arthroskopische Knorpelglättung vorgeschlagen wurde.

In den folgenden Jahren wurden beide operativen Maßnahmen, sowohl an der Wir-belsäule als auch an den Kniegelenken durchgeführt. Schmerzfrei wurde Frau S. durch die Eingriffe weder an der Wirbelsäule noch an den Kniegelenken. Die behandelnden Ärzte, die mit den zunehmenden Schmerzen konfrontiert wurden, schickten Frau S. zu einem Psychiater, da nach Meinung der Ärzte eine Erklärung für die vielfachen und unerträglichen Schmerzen lediglich in einem seelischen Hintergrund zu finden seien. Der Psychiater stellte unter anderem eine reaktive Depression fest und empfahl dringend eine psychosomatische Behandlung in einer entsprechenden Klinik. Der Aufenthalt in der psychosomatischen Klinik verlief für Frau S. desillusionierend. Die körperlichen Schmerzen wurden weder therapiert, noch im eigentlichen Sinne erstgenommen, vielmehr wurde die gesamte Behandlung auf eine psychiatrische Ebene geschoben und Psychopharmaka verordnet.

Frau S. wurde durch den zunehmenden Schmerz und die Ausweglosigkeit der Be-handlungsversuche verständlicherweise immer verzagter und stelle schließlich vor 2 Jahren einen Antrag auf Anerkennung einer Berufs- und Erwerbsunfähigkeit.

Das erste Gutachten eines niedergelassenen Orthopäden, der für die zuständige Landesversicherungsanstalt tätig wurde, war für Frau S. in der Aussage nieder-schmetternd. Mit Ausnahme der bereits bekannten Veränderungen an der Wirbelsäule, den Ellenbogen und an den Kniegelenken fand er nichts Bedenkliches und hielt Frau S. für fähig, weiterhin in ihrem Beruf tätig zu sein. Im Bescheid der Rentenversicherung wurde daraufhin der Antrag auf Anerkennung einer Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente abgelehnt. Frau S. erhob gegen diesen ablehnenden Bescheid Widerspruch, der aber erfolglos blieb und zurückgewiesen wurde.

Schließlich erhob Frau S. Klage vor dem zuständigen Sozialgericht und begründete ihre Klage mit einer völligen Aufhebung ihrer Leistungsfähigkeit. Es dauerte etwa 1 Jahr, bis schließlich ein Gutachten für das Sozialgericht erstellt wurde, wobei es sich hierbei um ein sogenanntes Termingutachten handelte, das am Tag der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht durch einen beamteten Arzt mit internistischer Facharztausbildung erstellt wurde. Eine körperliche Untersuchung hinsichtlich der Muskelfunktion und der entsprechenden Hauptbeschwerden des Rumpfes und der Gliedmaßen wurde durch den Internisten nur oberflächlich durchgeführt, dafür erfolgte eine ausführliche Untersuchung der inneren Organe, einschließlich Beurteilung eines Elektrokardiogramms und Beurteilung einer Lungenfunktionsprüfung. Da diese Befunde allesamt weitgehend im Normbereich waren, hielt der Gerichtsgutachter Frau S. für fähig, leichte körperliche Arbeiten vollschichtig zu verrichten.

Während der mündlichen Verhandlung wurde das Gutachten des Internisten vorge-tragen, wobei der Klagevertreter von Frau S. schließlich darauf bestand, ein erneutes Gutachten durch einen Facharzt für Orthopädie einzuholen, und zwar durch einen Arzt seiner Wahl. Dieses Gutachten nach § 109 SGG steht im Übrigen jedem Kläger während eines Sozialgerichtsverfahrens zu. Der Antragsteller muss in einem solchen Fall vor Auftragerteilung dieses Gutachtens dem Gericht die voraussichtliche Honorarhöhe für dieses Gutachten hinterlegen, daraufhin beauftragt das Sozialgericht den Gutachter der Wahl mit der Erstattung eines solchen erneuten Gutachtens.

Die Untersuchung der Klägerin Klara S. beim Wahlgutachter zeigte eine erhebliche Leistungsminderung sämtlicher Greiffunktionen und eine Einschränkung der Gehfähigkeit, die in Verbindung mit anderen Funktionsstörungen so schwerwiegend waren, dass es in diesem erneuten Gutachten nicht sehr schwer war, die erhebliche Leistungseinschränkung zu definieren und dem Juristen verständlich zu machen, dass hier eine berufliche Tätigkeit nur noch in extrem beschränkter Form möglich war. Schließlich wurde dem Rentenantrag durch das Gericht stattgegeben, immerhin mehr als zwei Jahre nach Rentenantrag und vier Jahre nach Aufgabe der beruflichen Tätigkeit.

Der vorliegende Fall der Klara S. ist kein Einzelfall, vielmehr zeigt er den normalen Verlauf eines Fibromyalgie-Betroffenen, der einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeits-rente stellt. Verständlicherweise wird ein Richter sich in solchen schwierigen Fragen, bei dem es um einen chronischen Schmerz geht, auf die Aussage seines Gutachters verlassen müssen. Dass ein Gutachter neutral ist und ausschließlich für Sozialgerichte tätig ist, sollte selbstverständlich sein. In den meisten Fällen ist es aber so, dass Gutachter, die für Sozialgerichte tätig sind, zusätzlich auch regelmäßig von Versicherungsgesellschaften oder anderen Auftraggebern, wie die Rentenversicherung Gutachten erstellen und von diesen Auftraggebern auch honoriert werden. „Das Lied ich sing, des Brot ich ess“ ist ein Vorwurf, den solche Gutachter nicht selten zu hören bekommen.

Nachdem chronische Schmerzsyndrome wie die Fibromyalgie keine verlässlichen, nachvollziehbaren Untersuchungsergebnisse liefern, die die Krankheit bestätigen, muss der Gutachter aufgrund seiner Menschenkenntnis und seiner ärztlichen Erfahrung solche Funktionsdefizite und Schmerzen „einschätzen.“ Das Schätzen bzw. Einschätzen wird im Übrigen vom Gesetzgeber durchaus dort gefordert, wo ein „Messen“ mit vergleichbaren Parametern nicht oder nur unter großen Problemen möglich ist.

Die Problematik der Begutachtung von Schmerzpatienten ist hinlänglich bekannt, dies nicht nur bei den Gutachtern und den Juristen, sondern durch bittere Erfahrung auch bei den Betroffenen. Solange Menschen über andere Menschen hinsichtlich deren Schmerzen urteilen, wird es immer wieder mehr oder weniger unzulängliche Bewertungen geben. Die alte gutachtliche Weisheit: "Schmerzen hat, wer sie angibt" wird aber nur zu oft missachtet. Alle, die sich ungerecht durch erste Untersuchungsergebnisse fehl verstanden fühlen, müssen dazu ermutigt werden, den Kampf aufzunehmen. Der "Fibromyalgie-Kampf" spielt sich nicht nur im Wartezimmer ab, wie dies in einem „Spiegel“-Essay stand, nicht selten setzt er sich bis zur Anerkennung berechtigter Forderungen durch ein Sozialgerichtsurteil fort.

© 2013 Dr. med. Thomas Laser