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Einschränkung der Dauerleistungsfähigkeit bei der Fibromyalgie

Viele oberflächlich untersuchende Ärzte kommen bei Fibromyalgie-Betroffenen trotz angegebener Beschwerden zunächst zu der Überzeugung, dass keine ernsthafte Funktionsstörung vorliegen kann, die einer beruflichen Leistungsfähigkeit entgegen steht. Die Bewegungsfähigkeit der meisten Gelenke ist ausreichend. Diese Sichtweise ist jedoch insofern nicht ausreichend, da ein entscheidender Faktor bei der gesamten Situation nicht berücksichtigt wird. Es handelt sich hierbei um die für das Krankheitsbild der Fibromyalgie fehlende muskuläre Dauerleistungsfähigkeit.

Zudem wird von vielen Gutachtern statt der Bewertung einer Fibromyalgie die Bezeichnung „somatoforme Schmerzstörung“ verwendet. Definitionsgemäß handelt es sich hierbei um einen „andauernden, schweren und quälenden Schmerz, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Der Schmerz tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Problemen auf“. Das Fibromyalgie-Syndrom dagegen ist eine inzwischen von der WHO anerkannte eigenständige Funktionsstörung, die durch vielfache wissenschaftliche Untersuchungen in den letzten Jahren nachweisbare Störungen der Muskelaktivität bewirkt. Ärzte, die keine ausreichenden myologischen (muskelerkrankungsbedingte) Kenntnisse oder Untersuchuchungstechniken beherrschen, ignorieren in aller Regel die von den Betroffenen angegebenen Einschränkungen der muskulären Dauerleistungs-fähigkeit.


Arbeiten von Zieglgänsberger aus dem Max-Planck-Institut in München sowie von Mense aus dem Anatomischen Institut der Universität Heidelberg haben in ihren Forschungsergebnissen nachweisen können, dass Schmerzreize durch Aktivitäten der Neurotransmitterzellen an höhergelegene Zentren wie Thalamus oder die Formatio retikularis weitergeleitet werden und schließlich auch den Cortex erreichen. Nach einer gewissen Latenzzeit kann sich auch in diesen Strukturen eine gesteigerte Aktivität einstellen. Die Neuronen im Hinterhornbereich (Rückenmark) haben sich in Bezug auf ihre Reaktionsbereitschaft offensichtlich gewandelt. Vermutlich haben Nervenzellen eine Art Gedächtnis für früher erfolgte Reize. Zieglgänsberger sieht hier eine Erklärung für die Entstehung von chronischem Schmerz. Nervenzellen sind nach neuesten Erkenntnissen nicht mit einem starren Reizreaktionsmuster ausgerüstet, vielmehr lernen sie, erst nach wiederholter Reizung schneller und intensiver zu reagieren. Heute spricht man von „neuronaler Plastizität“. Plastizität und Erinnerungsfähigkeit der Rückenmarks-neuronen führen unter Umständen zu fatalen Folgen: Alle Schmerzreize der Peripherie hinterlassen Spuren im Rückenmark. Diese Erinnerungsbildung der Zelle hat eine Fülle von medizinischen bedeutsamen Konsequenzen. Wiederholte Schmerzreize (repetitive synaptische Erregung) führt dazu, dass die Neuronen spontan aktiv werden. In der Folge lässt sich eine Expansion der rezeptiven Felder im Cortex cerebri (Großhirnrinde) beobachten. Zusätzlich wird durch die Zunahme der Erregbarkeit dieser Neuronen auch das periphere rezeptive Feld vergrößert. Die neuronale Übererregbarkeit wird vermittelt durch die Coaktivierung von Glutamat-Rezeptoren und Rezeptoren für Substanz P. Klinische Untersuchungen bei der Fibromyalgie zeigen auch hier vergrößerte Areale mit „Referred pain“ (fortgeleitete Schmerzen) im Vergleich zu Kontrolluntersuchungen.

In den Untersuchungen von Mense spielen deszendierende (absteigende) schmerzmodulierende Systeme im Rückenmark zusätzlich eine wichtige Rolle. Myopathologisch ist die häufigste, allerdings sehr unspezifische Veränderung eine Typ-II-Faser-Atrophie, wie man sie bei allen Formen von Inaktivitätsatrophie findet und wie sie bei der Fibromyalgie nach längerer Vorgeschichte faktisch nie vermisst wird. Häufig findet man auch relativ frühzeitig eine anderweitig nicht zu erklärende Mikroangiopathie sowie eine leichte Lipid- und Mitochondrien-akkumulation im Fasertyp I (Spät, 1999). Unbestritten bestehen bei allen Fibromyalgie-Erkrankten nach neuesten Erkenntnissen die z.T. beträchtliche Erhöhung von Substanz P im Liquor sowie die Erniedrigung von Serotonin und Triptophan im Serum und Liquor. Zusätzlich ist aus neuroendokrinologischen Untersuchungen bekannt, dass im Rahmen der chronischen Stress-reaktion bei Fibromyalgie hypothalamische CRH-produzierende Neuronen aktiviert werden (Neeck). CRH ist bei Aktivitätssteigerung dafür verantwortlich, dass es zu Ängstlichkeit und Depressionen führt, was im Falle der Fibromyalgie die begleitende psychische Auffälligkeiten erklären.

Die gegenwärtig akzeptierte Interpretation all dieser Einzelbefunde besteht darin, dass aus chronischen, häufig lokalisierten Muskelschmerzen über spinale und supraspinale Mechanismen ein generalisiertes Muskelschmerzsyndrom entsteht und sich verselbständigt (Laser, Pongratz, 2008).

Im Klartext bedeuten die oben etwas schwer zu verstehenden fachlichen Ausführungen, dass nach heutigem Konsens aller Fibromyalgie-Experten eine Fibromyalgie als „Stressfolgekrankheit“ verstanden werden kann, wobei der Stress sowohl körperlich als auch psychischer Natur sein kann. Leider wird von vielen Untersuchern die Auswirkung der Schmerzkaskade auf die Muskulatur vernachlässigt bzw. nicht ausreichend zur Kenntnis genommen. Die bei einer gutachtlichen Untersuchung gefundene Bewegungsfähigkeit der Gelenk- und Muskelsysteme zeigt im Augenblick der Momentaufnahme der Untersuchung ausreichend gute Funktionsfähigkeit, während die Dauerleistungsfähigkeit in aller Regel nicht gemessen wird, was verständlicherweise auch auf gutachtliche Probleme stößt.

© 2013 Dr. med. Thomas Laser